„Seine Einbildungskraft verläßt niemals die Grenzen der Erfahrung, sie schleppt in der Tat immer die Weltkugel mit sich.“
Oskar Loerke über den Goethe des west-östlichen Diwan
Von der Phantasie resp. Einbildungskraft ist es nur ein Schritt bis
zur Innovation.
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte wurde dieser Begriff allerdings
inflationär
mißbraucht
- sogar eine neue Kotflügelform war plötzlich innovativ.
Von irgendwelchen ominösen politischen Entscheidungen ganz zu
schweigen. Hinter dem Wort ließ sich
so gut wie alles verbergen...
Aus diesem Grund habe ich dieses Kapitel unterteilt - in ,Kreativität' und ,Innovation' - um die tatsächlichen Bedeutungen etwas klarer herauszuarbeiten.
„Kreativität ist die Fähigkeit, Beziehungen zu sehen, wo keine
existieren.“
Thomas M. Disch (27)
Bei der
Untersuchung schöpferischer Vorgänge werden nur selten
die einzelnen Schritte des Erkenntnisvorgangs analysiert. Die schöpferische
Handlung wird vielmehr undifferenziert betrachtet: Einzelne psychische
Vorgänge gelten als etwas
Selbstverständliches und werden beim Studium des schöpferischen
Prozesses aus dem Zusammenhang ausgeklammert. (28)
Ich will im Rahmen dieser Arbeit versuchen, insbesondere diesen Fehler zu vermeiden. Deshalb erinnere ich auch daran, daß die fortgesetzte Anwendung von nur einer Technik im Kreativitätsprozeß äußerst lähmend wirken kann - besonders dann, wenn die betreffende Technik erfolgreich zu sein scheint. Auf den ersten Blick mag das etwas unvernünftig erscheinen. Doch beim fernöstlichen Kampfsport Aikido z.B. wird dem Schüler empfohlen, alle Techniken, die er erlernt, sofort wieder abzulegen, sobald er sie gemeistert hat - denn die Frucht ist das Ziel, und nicht die Blütenblätter, so schön diese auch aussehen mögen...
Das Menschheitsziel besteht darin, das Paradies, also die immerwährende Blüte und die immerwährende Ernte zu erreichen, zu erschaffen, oder wiederzufinden. Das Leben verbietet es uns keinesfalls, zu diesem Zweck auch nicht-religöse Mittel anzuwenden. Wenn ich hier also den Begriff Technik verwende, so meine ich damit ein differenziertes, schwer umfassend benennbares, aber überall sichtbares und wichtiges Element unseres heutigen Lebens - mit der bestimmten Funktion, Energien und Kräfte der Natur zu wandeln, zu transformieren und zu nutzen.
Damit sind natürlich alle Energien gemeint. Wenn nun das ,Element' der Technik jene Kunst ausmacht, Wechselwirkungen auszurichten und logisch erfaßte Gesetzmäßigkeiten anzuwenden, dann bildet die Phantasie oder Vorstellungskraft jene ,Primärenergie', aus der sich alle anderen Erkenntnisenergien transformieren lassen. Schiller spricht hier passenderweise von "neugefundenen Rädern in dem unbegreiflichen Uhrwerk der Seele."
Wer sich ein wenig die Mühe macht und den Prozeß der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung in der Geschichte genauer untersucht, der wird schnell feststellen, daß der erste Schritt aus dem Bekannten ins Unbekannte hinaus, aus dem bereits Nachweisbaren ins Neuland des erst Vermuteten hinein, meist nicht dem kalkulierenden und berechnenden Verstand, sondern viel mehr der ahnenden, entwerfenden und gestaltenden Fähigkeit der Einbildungskraft zu verdanken ist. (29)
Bei der genauen Untersuchung des Kreativitätsprozesses liegt das Problem nun darin, daß der zu untersuchende Denkprozeß zugleich das Instrument ist, das wir zur Durchführung unserer Untersuchung einsetzen müssen (30). Sind Schillers ,Räder' also nur wiedergefunden und gar nicht neuerfunden? Die Aussage, daß wir sowieso nie etwas Neues herausfinden, daß wir uns einfach immer nur erinnern, besitzt ihren ganz eigenen Vorstellungsraum (31). Sehen wir zu, ob es uns nicht gelingt, diesen auch zu betreten.
„Das
Allerwichtigste ist das GEISTIGE RISIKO.
Die wahre Revolution wäre die Zerbrechung der Unterdrückung von Phantasie.“
Robert Jungk (32)
Früher sagten wir ,Erfindung' dazu, heute sagen wir ,Innovation'. Der Innovator ist der Erfinder (oder Wiederfinder) von Techniken, Systemen und Verfahren. Sein Ziel ist das Bewahren des großen Ganzen durch die Veränderung des Teils.
Der Innovationsprozeß selbst umfaßt vier Teilphasen: (33)
Ideenfindung
Ideenakzeptierung
Entwicklung
Realisation
Auch hier legt der Begriff ,Ideenfindung' nahe, daß eine Idee bereits da ist und nur noch gefunden werden muß. Es ergeben sich demnach Zweifel, ob Innovationen tatsächlich und generell einen hohen Forschungsaufwand voraussetzen müssen. Unter Berücksichtigung des Zähmungsfaktors eingefahrener Techniken und Technologien stellt sich heraus, daß in einer hochkonzentrierten Industrie gerade die Großunternehmen wenig an einer Veränderung des einmal erreichten technischen Standards interessiert sind und daher eher fortschrittsbremsend wirken (34). Dies war auch der Grund für die Aussage, daß die moderne Innovationstheorie in Wirklichkeit viel mehr "eine Theorie der Innovationshemmnisse" ist. (35)
Trotzdem besteht Hoffnung auf Veränderung, denn es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß sich durch eine systematische Planung und Organisation und durch zielorientierte und methodengestützte Vorgehensweisen der Wirkungsgrad des Innovationsprozesses erheblich steigern läßt (36). Mit dieser Absicht führte die ,Kontaktstelle Planung im Öffentlichen Dienst' (KONPLAN) an der TU Berlin u.a. Innovationsseminare für Führungskräfte der Industrie und Verwaltung durch. Die ebenfalls dort gebildete ,Arbeitsgruppe Technologie-Transfer', an der ich auch selbst mitarbeitete, erstellte später die Pilotstudie Technologie-Transfer, in der die verstärkte Einführung von Innovationen (in Form neuer Produkte und neuer Technologien) empfohlen wird. Damit soll der globalwirtschaftlich-ökologischen Krise entgegengesteuert werden. Die Arbeitsgruppe forderte bereits in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, hierfür ein Programm zur Ausbildung von speziellen Transferfachleuten (Innovationsingenieure oder Innovationsberater) zu entwickeln (37). Die Wartezeiten auf neue und wichtige Innovationen ließen sich damit vermutlich stark abkürzen.
Sogar das aus Erfahrungswerten abgeleitete Zeitlimit von durchschnittlich 75 Jahren, die eine neue Innovation bis zu ihrer Anwendung braucht, ließe sich durch die Anwendung entsprechender Techniken reduzieren. Zwar hat die Photographie zwischen ihrer Erfindung und ihrem Einsatz sogar über 100 Jahre gebraucht, während das Plexiglas noch knapp 60 Jahre brauchte, aber schon die Transistoren wurden etwa 10 Jahre nach ihrer Erfindung in Serie hergestellt. Und die Geschwindigkeit der Entwicklung verkürzt auch weiterhin manchmal die Intervalle. Manchmal! So wurde die Solarzelle 1953 erfunden und kam bereits 3 Jahre später zum Einsatz (38). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Grundlagen, die 1953 synergetisch zu dieser neuen Technologie geführt haben, schon über 100 Jahre bekannt waren: Das photoelektrische Prinzip, das die Grundlage aller Arten von Solarzellen bildet, wurde bereits 1839 von dem damals 19-jährigen französischen Physiker Alexandre Edmond Becquerel entdeckt, und daß Selen Elektrizität ,produziert', sobald es dem Sonnenlicht ausgesetzt wird, wurde 1876 von William Grylls Adams, einem Professor am King's College in London, und seinem Studenten Richard Evans Day festgestellt.
Doch während zwischen dem ersten Motorflug der Gebrüder Wright (1903) und der ersten Mondlandung (1969) gerade mal 66 Jahre vergingen (!), scheint es seit Ende des 2. Weltkrieges, der neben allen Schrecken einen Riesensprung bei der Umsetzung neuer Technologien darstellte, mit den wirklichen Basisinnovationen aus zu sein. Trotz intensiver Suche ist es mir nicht gelungen, mehr als nur eine oder zwei grundlegende Neuentdeckungen zu finden, bei denen zumindest nicht schon die Theorie vor 1945 datiert. Das Tunnelrastermikroskop mag vielleicht eine solche eine neue Entdeckung sein - aber sonst?! Was ist hier passiert??
Im Prinzip haben wir inzwischen jedoch in jedem Moment die Möglichkeit eines Stufenwechsels! Schon die Verbreitungsgeschwindigkeit von Informationen spielt heutzutage eine große Rolle. Durch ihre elektrische Geschwindigkeit beschleunigt sie die Prozesse bis hin zur lichtschnellen weltweiten Erkenntnis der Kugel, des Planeten, des ,Raumschiffes Erde'. Viele sehen in den ersten Fotografien unseres blauen Planeten einen sehr wichtigen Schritt im kosmischen Bewußtwerden der Menschheit als Ganzes.
Leider gibt es noch immer das von dem ideenreichen Luis Bunuel so treffend beschriebene Verhalten, daß "mancher eine gute Idee nur deshalb ablehnt, weil sie nicht von ihm ist." (39) Manchmal jedoch wird auch schon zielorientiert gearbeitet. So hat z.B. eine Gruppe Wissenschaftler des Amerikanischen Instituts für Energiewirtschaft 1977 damit begonnen, systematisch die Energieforschungsergebnisse des 3. Reiches zu analysieren. Nach Kriegsende hatten die Amerikaner rund 500.000 Dokumente allein über die Forschung und Entwicklung von künstlichen Treibstoffen gefunden und an der A & M University in Texas gestapelt. (40)
Die Experten überall auf der Welt wissen derzeit im Grunde nicht mehr als jeder Laie, nämlich nur, daß Zukunftstechnologien selbst zukunftsorientiert sein müssen, d.h. energiesparend, umweltfreundlich und menschengerecht - doch Genaueres weiß kaum jemand. Dies ist eben die Sache des kreativen Aktes, der Innovation (oder der Erinnerung?).
Der Motivationsimpuls zur Ideenfindung ist denn auch der entscheidende Punkt, den viele Innovatoren hervorgehoben haben: Die Notwendigkeit einer Veränderung. Es ist gut, sich hier die Worte Albert Einsteins ins Gedächtnis zu rufen:
„Die Welt, die wir als Ergebnis jener Ebene des Denkens geschaffen haben, das wir erreichten, erzeugt Probleme, die wir nicht auf der gleichen Ebene wie derjenigen lösen können, wo wir sie erschaffen haben.“ (41)
Und außerdem hat der gute Mann auch noch gesagt: "Imagination is more important than knowledge!" Das heißt aber nichts anderes, als daß die einzige Möglichkeit, die Probleme zu lösen, die uns und unseren Planeten bedrohen, darin besteht, eine neue Ebene zu schaffen, auf der über sie nachgedacht werden kann.
Wir müssen dabei die erstarrten alten Zusammenhänge zerbrechen oder auflösen, um die neuen Zusammenhänge als offene, flexible und wandelfähige Systeme zu sehen und umzusetzen. Und immer mit dem Gedanken: Werden neue Technologien angewandt, so werden sie auch zu einem sozialen Wandel führen und zu Veränderungen gesellschaftlicher und individueller Werte. Denn eines der augenfälligsten Merkmale neuer Technologien besteht ja gerade darin, daß sie zu Veränderungen in der physischen Natur und damit auch zu neuen Freiheitsgraden führen.
Wir können eine neue Technologie also wie folgt definieren:
„Eine neue Technologie ermöglicht eine neue Methode der Einführung eines physischen Wechsels, oder sie schafft eine vollkommen neue physische Möglichkeit oder Alternative, die vorher einfach nicht bestanden hat.“ (42)
Das primäre Ergebnis einer tatsächlichen Innovation besteht also darin, daß sie materielle und physische Möglichkeiten vervielfältigt und variiert, und dadurch dem Menschen neue und veränderte Möglichkeiten anbietet.
Wenden wir uns
nun dem Begriff des Stufenwechsels zu, der eine übergeordnete Beschreibung der erwünschten grundlegenden
Veränderungen darstellt.